Ich stehe an der Kreuzung an der Schönhauser Allee in Berlin. Baustellen. Fußgänger. Autos. Straßenbahnen. Das klassische Durcheinander an dieser Ecke. Und dann bin da noch ich. Ich sitze auf meinem alten, aber dennoch geliebten schwarzen Kettler-Stadtfahrrad und warte, dass die Ampel für Radfahrer von Rot zu Grün wechselt.

Und da ist er wieder, dieser Moment, den ich bereits so häufig erlebt habe. Ein Radfahrer, der später als ich an der Ampel ankommt, stellt sich quer vor mich auf den Radweg, um als Erster an der Ampel zu stehen. Platz ist dort eigentlich nicht. Und außerdem stehe ich ja bereits vor ihm dort und warte.
Dann wird es grün. Er fährt los. Mir ist das Tempo zu langsam. Ich überhole ihn. An der nächsten Ampel stellt er sich wieder vor mich. Schafft es aber bereits nach wenigen Metern wieder nicht, mein Tempo mitzugehen. Das ganze Schauspiel wiederholt sich auch an den nachfolgenden Ampeln, solange, bis ich schließlich abbiegen muss, um zu meinem Ziel zu gelangen.
So oder so ähnlich habe ich das schon unendliche Male erlebt. Egal ob es Rennradfahrer, E-Biker oder Leute mit einem Stadtfahrrad sind.
Wozu eigentlich dieses sinnlose Theater? Vielleicht mag er es nicht, wenn Leute vor ihm fahren. Dann könnte er ja einfach überholen und einen Abstand zwischen uns bringen. Vielleicht hat ihn die Kraft in den Beinen verlassen. Weshalb lässt er sich dann nicht zurückfallen und radelt entspannt weiter?

Vielleicht hat es tausend völlig andere Gründe, an die ich nicht einmal denke. Was für mich in diesem Moment aber ankommt, ist: Er überholt mich, weil ich äußerlich nicht schlank und fit aussehe. Denn übergewichtige Radfahrer, fahren nun mal langsamer als Menschen mit vergleichsweise weniger Kilos auf dem Sattel.
Zumindest scheinen viele Menschen das fälschlicherweise zu glauben. Vielleicht denken diese sogar: Menschen mit Übergewicht können eh nicht Radfahren oder sollten gar nicht Fahrrad fahren.
Das sind alles sehr provokative Aussagen und ich kann natürlich nur mutmaßen, ob das in dieser Situation wirklich der Fall war. Sie dient auch nur als ein Beispiel aus vielen anderen. Wie komme ich nun also auf diese absurde Behauptung, dass andere RadfahrerInnen denken, dass übergewichtige Radfahrer langsam sind.
Ganz einfach: neben den normalen Vorurteilen gegenüber Menschen mit Übergewicht, spielt dieses Thema in der Fahrradbubble eine sehr große Rolle. Bereits wenige Minuten Recherche im Internet genügen, um festzustellen Fahrradfahren ist etwas für Menschen, die alle ähnlich aussehen. Schlank aussehen.
Um an dieser Stelle klar Missverständnissen vorzubeugen:
Das Thema dieses Beitrages ist NICHT Body-Positivity oder Abnehmen, hier geht es um Vorurteile.
Ich bin übergewichtig und fahre Fahrrad. Jeden Tag bei Wind und Wetter radle ich zur Arbeit und lege innerhalb Berlins kurze und weitere Strecken zurück. Das tue ich mit meinem verhältnismäßig schweren Stadtfahrrad. In meiner Freizeit fahre ich viel Gravelbike und mache mehrtägige Bikepackingtouren im In- und Ausland. Mal etwas zügiger, mal sehr gemächlich. Mal kurze Strecken, mal im dreistelligen Kilometerbereich. Je nach Lust und Laune und Zeit.

Nicht jeder übergewichtige Radfahrer, fährt also langsam oder ist untrainiert. Nicht jeder dünne Mensch ist automatisch fit und gesund. Genau deshalb wäre ein bisschen mehr Offenheit schön. Wenn wir aufhören, andere nach ihrer Figur, ihrem Rad oder ihrem Tempo zu bewerten, bleibt plötzlich viel mehr Raum für das, worum es beim Radfahren eigentlich geht. Um Bewegung, um das Draußensein, um dieses Gefühl von Wind im Gesicht und Freiheit im Kopf.
Egal ob dick, dünn, sportlich oder gemütlich, am Ende sitzen wir doch alle auf zwei Rädern und versuchen, gut durch den Tag zu kommen. Also wartet doch das nächste Mal mit dem Vordrängeln, bis ihr wisst, ob ihr wirklich schneller seid als die Person vor euch. Ihr wisst nie, was hinter der Person wirklich steckt. Vielleicht fängt mehr Miteinander genau dort an, auf dem Radweg, an der Ampel, im ganz normalen Alltag.